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Foto: Moena Weiss

REIZ

Freie Klasse Eva Bertram

Eröffnung: Freitag, 28. Februar 2020, 19 Uhr
Ausstellungsdauer: 29. Februar bis 7. Juni 2020
Öffnungszeiten der Galerie: Do bis So, 13 bis 18 Uhr

Brenda Alamilla, Winfried Alberti, Steffi Drerup, Uta Genilke, Markus Hermann, Jeannine Jirak, Nastassja Nefjodov, Sophie Seydel, Moena Weiss, Andrea Wilmsen

„REIZ“ zeigt ausgewählte Ergebnisse fotografischer Projekte, die im Rahmen des Workshops Freie Klasse Eva Bertram 2019 entstanden sind.

Vier Buchstaben, kurzes Zischen.

Zehn Positionen behandeln Reizthemen, kratzen an der Oberfläche, durchdringen Schichten. Unter die Haut.

Die Versuchung ist groß, an seltsamen Tagen bloss von sich zu erzählen, aus der Tiefe der Erinnerung, der Neugier, dem Erlebten, dem Geträumten, dem Archiv heraus; bloss von anderem zu erzählen, aus der Begegnung, der Vermutung, dem Museum heraus.

Übergestern ist heute, schon vergeben, gerade eben, deshalb sowieso schon Überreizung, Reizdarm dreimal, Reizhusten zweimal, reizend alle mindestens einmal. 

Reiz ist kuratiert von Eva Bertram, freischaffende Fotokünstlerin und Dozentin an der Neuen Schule für Fotografie sowie an der UdK Berlin. 

Die „Freie Klasse Eva Bertram“ existiert seit 2013 und ist ein Workshop-Format zur kontextualisierenden Betreuung persönlicher, selbst gewählter Fotoprojekte, die ausserhalb schulischer oder studentischer Rahmenbedingungen entstehen. Das Motto »augenfällig unscheinbar« dient dabei als offenes Bezugsfeld. Mehr Infos zur Freien Klasse 2020 finden Sie hier.

 

Ich bin hier – Estoy aquí
Brenda Alamilla

„Ich bin hier – Estoy aquí“ ist eine Reise ins Unbewusste, in der Brenda Alamilla persönlicher Gewalt und Missbrauchserfahrungen in ihrer Kindheit nachspürt.

Dabei verknüpft sie Fragmente aus Erinnerungen und Träumen mit Referenzen zum mesoamerikanischen Schutzgeist Nagual, der in tierischer oder pflanzlicher Gestalt in Träumen erscheint.

Die Serie aus zum Teil biographischem Material, Fotos, Collagen und Gedichten ist der Auftakt zu einem Langzeitprojekt, das sich ausgehend vom Familienkreis mit der Allgegenwart von Gewalt auseinandersetzt, die viele Frauen in Mexiko im privaten Umfeld wie auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext erleben.

 

In der Anonymität vergessen
Winfried Alberti

Jedes Jahr sterben in Berlin ca. 300 Menschen einsam und unbemerkt in ihren Wohnungen und werden häufig erst nach Wochen entdeckt. Ich hatte die Gelegenheit, eine solche Wohnung zu betreten und die Wohnung und Hinterlassenschaften des Verstorbenen fotografisch zu dokumentieren. Was mich betroffen machte, war der Zustand der Wohnung, der im eklatanten Gegensatz zu dem hohen Einkommen und Sparguthaben des 76-jährigen Mannes, eines pensionierten Bankangestellten, stand. Obwohl ich die Wohnung zweimal betreten habe, hatte ich eine Scheu, die persönlichen Sachen wie z. B. eine Akte „Scheidung“ zu durchsuchen. Mich hätte interessiert, welche Lebensumstände dazu geführt haben, sich persönlich so zu vernachlässigen und sozial so isoliert zu sein. So kann ich anhand der vorgefundenen Habseligkeiten lediglich Vermutungen anstellen.

 

„Senke den Blick“
Steffi Drerup

Die Arbeit „Senke den Blick“ / „Avert your eyes“ zeigt eine Reihe von Selbstportraits, die sich mit dem Thema Scham und mit körperlichem und emotionalem Selbst-Bewusst-Sein befassen. Mit Blick auf Nacktheit, monatliche Zyklen und körperliche Veränderungen nach der Geburt ergründet Steffi Drerup mit ihren Inszenierungen die weibliche Identität und hinterfragt den Blickwinkel des Betrachters.

 

ÜBERS MEER
Uta Genilke

Im Hamburger Auswanderermuseum fand ich den Namen meines Großvaters auf der Passagierliste der Monte Olivia mit dem Ziel Rio de Janeiro: Willy, 20 Jahre, Zimmermann, Mai 1926. In dem Fotobuch ÜBERS MEER begebe ich mich auf eine imaginäre Reise und folge ihm an diesen Sehnsuchtsort, unter Verwendung von eigenen und Familienbildern, Archivfunden und Briefzitaten. Als Kind hat mich eine Fotografie aus dieser Zeit fasziniert: Willy sitzt auf einem Schimmel und reitet durch eine exotische Landschaft. Nie konnte ich verstehen, dass er nach einigen Jahren nach Deutschland zurückgekehrt ist. Er musste in den Krieg ziehen und starb 1945, zur gleichen Zeit, als die Monte Olivia im Kieler Hafen durch Bombenangriffe versenkt wurde. Vielleicht war es aber diese Fotografie, die auch bei mir ein unstillbares Fernweh ausgelöst hat.


genieße still
Markus Hermann

genieße still

ich schaue, inspiziere. suche den einblick. bin neugierig, hier passiert was. ich löse aus, regellos.

haut, fleisch, doch kein fleisch? Ich assoziiere, kombiniere. mal lustvoll, mal direkt, mal provokant.

nicht nur zartrosa, genieße still.

 

(in „genieße still“ kombiniert Markus Hermann seine phantasievollen Betrachtungen menschlicher Haut mit assoziierenden Stofflichkeiten)

 

F.41.0
Jeannine Jirak

„Eine Panikattacke ist eine klar abgrenzbare Episode von intensiver Angst bei der u. a. folgende Symptome innerhalb weniger Minuten auftreten können: Erstickungsgefühl, Erstarrung, Zittern, Beklemmungsgefühl, Schwindel, Entfremdungsgefühl. Die Angstattacken sind wiederkehrend und nicht vorhersehbar. Sie beschränken sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände.“ (www.icd-code.de)

In ihrem fotografischen Langzeitprojekt versucht Jeannine Jirak, mittels des eigenen Körpers ihren Ängsten zu folgen und Ausdruck zu verleihen. Dabei führt sie diese Aufarbeitung auch in die Vergangenheit. Mittels teils experimenteller Fotografie und biografischem Archivmaterial soll hier eine Verbindung gezeigt werden.

 

Meine Großväter, der Krieg und ich
Nastassja Nefjodov

Grundlage dieser Arbeit ist ein widerkehrendes Muster in meiner Familie, in der sich immer wieder Kriegsgegner einfinden. 

Mit Landschaftsaufnahmen und Stills auf den Spuren meines deutschen Großvaters in Russland, mit Ausschnitten aus Fotos in der Wohnung meines russischen Großvaters, mit Selbstportraits und Archivmaterial aus den Familienalben gehe ich auf die Suche nach zwei Männern, die mir Zeit ihres Lebens fremd geblieben sind, die ich an den Krieg und ans Militär verloren habe, bevor ich in ihr Leben getreten bin, die mir so viel von ihrer Geschichte, ihrer Erinnerung, ihrem Schmerz hinterlassen haben.

 

Heile Welt
Sophie Seydel

Sind wir nicht alle auf der Suche nach einem Stückchen heiler Welt, einem Platz in der Gemeinschaft und dem Zusammenhalt im Mikrokosmos? Macht das nicht den Reiz aus, in die Natur zu flüchten, sich der Idylle hinzugeben? Die Suche nach Verbundenheit und Sinnhaftigkeit führt auf verschiedene Wege, und doch sehen diese bei vielen Menschen ähnlich aus. Wir gehen in die Kirche, in den Sportverein, suchen Halt in der Schulgemeinschaft oder durch andere Aktivitäten und Interessen, die wir verfolgen. Von außen kann dies absurd und unbegreifbar wirken, doch wenn man Teil einer Gemeinschaft ist, bietet diese Geborgenheit im Abgeschirmtsein.

 

Through my Veins
Moena Weiss

„Das Zusammentreffen von zwei Persönlichkeiten ist wie die Mischung zweier verschiedener chemischer Körper: tritt eine Verbindung überhaupt ein, sind beide gewandelt.“ C.G. Jung

Die Collagen und die Video-Installation stellen plastisch dar, was wir Menschen in uns und in anderen auslösen können.

Ich habe überwiegend die Farbe Rot verwendet, sie ist für mich ein Symbol der Lebendigkeit.

Blut hält uns am Leben, es wird kontinuierlich durch den Körper gepumpt und transportiert alle möglichen kodierten Gefühle in Form von Transmitterstoffen. Die roten Fäden sind symbolisch für Venen, die sich durch unsere Körper ziehen, und stellen ein Verbindungsstück innerhalb der Serie dar.

Dass die „Venen“ auf der Haut platziert und die Gesichter mit Hilfe von Gazestoffen zum Teil verschleiert sind, soll die Fragilität verdeutlichen, die diesen Prozessen innewohnt.

 

B.ODE
Andrea Wilmsen

Manchmal wissen wir mit Blick auf diese Bilder nicht, in welchem Raum wir uns befinden, ja, ob es sich überhaupt um einen Raum handelt. Die Berliner Fotografin Andrea Wilmsen tut dies häufig so sehr en detail oder in so geringer Entfernung zu leeren Wänden, dass wir mitunter abstrakte oder ungegenständliche Fotografien vor uns wähnen. Für ihr aktuelles Projekt B.ODE fotografierte sie in den Ausstellungssälen des Bode-Museums auf der Berliner Museumsinsel in immer neuen Blickwinkeln, allerdings nicht im Sinne der Kunstreproduktion. Sie entscheidet sich – auch als Versuch, unsere grundsätzliche Wahrnehmung von Räumen zu erforschen – für den unmittelbaren Umraum der Skulpturen und Gemälde. Es geht ihr nicht um das Bode-Museum als konkreten und repräsentativen Ort oder die Kunstwerke, die dort ausgestellt werden, sondern um den musealen Raum im Allgemeinen, um die Bühne für bestimmte Objekte, die durch die dortige Präsentation und Kontextualisierung erst musealisiert werden. So verwandelt sie den Hintergrund mit seinen häufig übersehenen Details und Raumdurchsichten in überraschende, mitunter nahezu „leere“ Bildmotive, die scheinbar ohne ein Raumvolumen auskommen.

Kachelbild: Sophie Seydel